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Expertengespräch zur genetischen Textkritik im Bereich Musik

Denkansätze zur genetischen Edition in Textkritik und Editorik der Literaturwissenschaft

von Hans Walter Gabler

Über die Einladung zum Expertengespräch freue ich mich. Wenn ich nun aber als Literaturwissenschaftler noch vor den musikwissenschaftlichen Experten sogleich ausersehen bin, das Gespräch zu beginnen, macht mich das etwas befangen. Doch ich will mich bemühen, einleitend knapp Gedanken zu „Text“ und zum genetischen Edieren aus literaturwissenschaftlicher, textkritischer und editorischer Sicht darzulegen. Zum Glück steht mein Beitrag nicht mehr, wie noch im Vorprogramm angekündigt, unter der Überschrift „Textbegriff in der Literaturwissenschaft“ – denn die ebenso Abstraktion wie Starrheit suggerierende deutsche Vorstellung von „Begriff“ ist mir immer etwas unheimlich; und zudem wäre die Vorstellung, dass es einen einheitlichen „Textbegriff“ in der Literaturwissenschaft gäbe, erst recht irreführend. Bin ich selbst, allgemein gesehen, Literaturwissenschaftler, so bin ich im Speziellen Textkritiker und Editor, also Editionswissenschaftler. Diese Differenzierung zu betonen deutet die Mühe an, welche in der gesamten Fach-Fächerung die Bereiche „Literaturkritik“ und „Literaturwissenschaft“, „Textkritik“ und „Editorik“ haben, sich als systemisch zusammengehörig wahrzunehmen und aufeinander zu beziehen. Also werde ich schlicht versuchen, in dieser größeren Werkstatt bei meinem eigenen Leisten zu bleiben.

Eine genetisch ausgerichtete Literaturkritik und Interpretation im Allgemeinen, eine genetisch ausgerichtete Textkritik und Editorik im Speziellen, sieht sich konfrontiert mit kulturgeprägten Vorstellungen, zu denen die in Genese implizierte Prozesshaftigkeit quer steht. „Text“ sei doch etwas Festes, Unverrückbares, sei also daher auch unveränderbar. Wenn dann Text doch verändert – variant – zu beobachten ist, so hat sich, insbesondere aus dem Fokus auf frühe Überlieferungen, die Grundannahme zur Norm erhoben, dass die „Varianz“ von verderbter Überlieferung herrühren müsse. Die Folie für diese Vorstellung dürfte wiederum die Grundannahme zum göttlichen Wort sein, es stehe rein, fest und unverrückbar da, und jede Abweichung, die ihm als materieller, geschriebener und dokumentbezeugter Text in Überlieferungen widerfährt, muss ein Makel dieser Überlieferung sein. Die Annahme von „Text“ als etwas wesentlich Festem und Unveränderbarem wird damit zum fundamentalen Apriori.

Nun ersetzt aber ab allerspätestens der kulturellen Zeitenwende um 1800 herum der „Autor“ die transzendente Gottheit als Bezugsgröße, als Bezugsperson für überlieferte Texte. Damit verbindet sich noch die weitere Voreinstellung, dass „(Autor-)Text“ und „(Autor-)Werk“ deckungsgleich seien. Zur gleichen Zeitenwende konstituiert sich die Textkritik als Wissenschaft. Sie hinterfragt diese Prämissen nicht, sondern sie verinnerlicht vielmehr – in ihrer Spielart als „niedere Kritik“ – die apriorischen Annahmen. Bei der editorischen Umsetzung werden sie als Vorgaben begriffen. Unter der Prämisse von der Unveränderbarkeit von Texten war die Editorik auf die in Editionen zu leistende Reinigung textlicher Überlieferungen von Verderbtheit gerichtet. Varianz in den Überlieferungen wurde als fehlerbedingt angenommen. (Am Rande bemerkt: die Editionswissenschaft, wie sie von ihren Ursprüngen her auf den „Fehler“ gebaut ist, ist doch eigentlich ein sehr eigenartiger Wissenschaftsbereich, so von einer „Negativität“ her bestimmt, wie er damit ist.)

Textkritisch-editorisch empirische Wahrnehmung und Erfahrung ist nun einmal aber die „Varianz“, und also die Veränderlichkeit im Erscheinen von Text in der Überlieferung. Varianz aber ist wesentlich nicht „fehlerhaft“, sondern eben „Varianz“. Wollen wir Raum schaffen für genetisch ausgerichtete Literaturkritik, Textkritik und Edition, müssen wir ein neues Verständnis für die Natur von Überlieferungen entwickeln und dabei grundlegend auch das Verhältnis von „Text“ und „Werk“ neu fassen. Die Kernunterscheidung hierfür ist für mich: „Text“ manifestiert sich nie anders als „materiell“; und „Werk“ lässt sich nie anders als nur „hermeneutisch“ erschließen aus den ihm zuzuordnenden materiellen Textbezeugungen.

Wenn wir auf Überlieferungsdokumenten, insbesondere aber auf originalen, autorgeschriebenen Dokumenten, „Text“ materialisiert wahrnehmen, ist diese Materialität von doppelter Natur. Zum einen besteht sie im Material des Dokuments, und zum anderen im Material der Schrift, die als Strichmusterung wie als Schreibstoff (Tinte, Bleistift, Farbstift, Faustsches Eigenblut— oder was immer) in das Dokumentmaterial einbeschrieben ist. Solche autorgeschriebenen Entwurfshandschriften sind daher nicht – wie herkömmlich behauptet – „Textzeugen“, die als solche hinter dem „Bezeugten“ zurücktreten. Nur zu einem Teil auch materialisieren sie überhaupt Text. Umfassend betrachtet sind sie „Originale“ in dem Sinn, wie es etwa Gemälde sind. Zutiefst sind in Originalhandschriften die Materialität von Dokument und Beschriftung miteinander verwoben. Trägerdokument und Beschriftung stehen untrennbar im Verbund miteinander. Dabei ist auch nur ein Teil der Beschriftung „Text“; und Text bildet sich im Übrigen, textkritisch und editorisch gesehen, in und aus Entwurfshandschriften überhaupt erst im Lesen und Abschreiben heran. Bereits der Ausführende der Beschriftung erfasst die Beschriftung im Moment der Beschriftung simultan schon als Text, weil „Schreiben“ sogleich „Lesen“ einbeschließt, wenn nicht gar in gewissem Sinne voraussetzt. Das, was von einer Autor-Entwurfshandschrift unter der Zeugenperspektive abtrennbar ist, ist bereits, was gelesen und abgeschrieben wird. Erst dies, das Gelesene und Abgeschriebene, ist dann „Text“. Die Formel hierfür, die für mich unübertroffen bleibt, ist die von Daniel Ferrer, nämlich: „ein Original stellt nicht (einen) Text dar, sondern ein Protokoll zur Erstellung eines Texts“ 1 – erst das Lesen und das gegebenenfalls daraus resultierende Abschreiben ordnen die in der Handschrift original räumlich verteilte Beschriftung in die Text konstituierende lineare Abfolge um. Lesen und Abschreiben sind zudem auch ein Herauslösen alles Les- und Abschreibbaren aus dem Originaldokument – und was sich fürs Lesen und Abschreiben als Text qualifiziert, ist stets auch nur ein Teil dessen, was das Dokument an Beschriftung aufweist. Nur das Textresultat der Beschriftung ist direkt lesbar und so vom Dokument ablösbar, und das Ablösen lässt alle sonstigen Merkmale der Graphie und Topographie des Originals hinter sich. Was aber abgelöst wird, kann dann von einem beliebigen zum nächsten beliebigen Träger übertragen werden, es ist Text im herkömmlichen Sinn. Was bei seiner Herauslösung im Original zurückgelassen wurde, sind vielfältige Indices zur kontinuierlichen Ereignishaftigkeit der Beschriftung. Aus ihrer Deutung heraus ist Verständnis für die Bedeutung der Schreibereignisse, und damit für die Entstehung, die Genese, des allmählich sich heranbildenden Textes zu gewinnen. So gesehen wird aus dem, was sich im und auf dem Originaldokument ereignet, die Genese des Textes, wie das Dokument sie aufweist, in nuce sogar bereits als Ansatz zum Verständnis des Werks aus der in Varianz sich vollziehenden Genese seines Textes lesbar – und in genetischer Edition lesbar gemacht.

Das Movens von Text als materieller Verzeichnung und das Movens von Werk als Interpretandum wiederum ist die „Sprache“. Die Eigenkraft von Sprache aber beruht konstitutionell auf ihrer „Nicht-Eindeutigkeit“. Ihre Fähigkeit, zu Sagendes immer auch anders sagen zu können, entspringt ihrer fundamentalen Disposition zu Varianz – ja, im Grunde genommen könnten wir uns überhaupt nicht verständigen, ohne Gesagtes oder zu Sagendes nicht auch anders – eben variant – sagen und verstehen zu können. (Also nehme ich auch an, dass unser Expertengespräch sich genau daraus fortgenerieren wird, dass wir immer wieder gegenseitig nachfragen: „Was hast du denn damit, was du eben gesagt hast, gemeint?“) So wird Sprache variiert, so entsteht im Sprechen wie im Hervorbringen geschriebener Sprache das, was in Originaldokumenten die Spuren der Entstehung des in Sprache ausgedrückten Geschriebenen und damit der materiellen Bedingungen dieser Entstehung hinterlässt.

Jemand, der ein Dokument zuerst beschriftet, ist in dem Moment, wo er etwas niedergeschrieben hat und sein Auge auch nur beginnt, das zu überfliegen, im Ansatz bereits in unserer Rolle als Leser und schon nicht mehr ausschließlich in der Rolle desjenigen, der sich (gleichzeitig) auch das ersonnen hat und ersinnt, was da niedergeschrieben wird und wurde. Aus diesem Prozess der rekurrenten Rück-Sprache im Weiterformulieren und Umformulieren mit dem in Sprache schon Gestalteten entsteht genau das, womit eine genetisch orientierte Text- und Literaturkritik sich befasst. Daraus ist auch die Vorstellung abzuleiten, dass das Werk sich nicht manifestiert in einem editorisch darzustellenden Text, sondern dass alle materiell manifesten Texte, die in solchen Varianzbeziehungen zueinander stehen, insgesamt den Werktext ausmachen. Diesen seine eigene Varianz ganz einschließenden, und also nicht synchronen, sondern diachronen Text hat die Literaturwissenschaft zur Interpretation verfügbar, wenn denn aus einer genetisch ausgerichteten Textkritik heraus eine Editorik sich herausbildet, die dazu tragfähige Modelle der editorischen Darstellung zur Erschließung gerade auch der genetischen Dimensionen von Werken und ihren Texten entwickelt.

Daniel Ferrer, The Open Space of the Draft Page: James Joyce and Modern Manuscripts, in: The Iconic Page in Manuscripts, Print, and Digital Culture, hg. von George Bornstein u. Theresa Tinkle, Ann Arbor 1998, S. 249–267, S. 261: „the draft is not a text but a protocol for making a text.“