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Expertengespräch zur genetischen Textkritik im Bereich Musik

Diskussion Teil 3: Der Umgang mit dem Phänomen der Invarianz in der Musik

Diskussionsleitung: Dr. Katrin Eich (Kiel)

Ulrich Krämer findet, dass die Ausführungen von Susanne Cox und Federica Rovelli eine schöne Verbindung zu dem Phänomen herstellen, mit welchem sich in der vorangegangen Sektion schon Gerrit Brüning beschäftigt hatte, nämlich zu der Frage, wie umfangreich der Bereich einer Variante sein kann. Wie schon im Faust-Projekt erkennbar, können Textbestandteile vorkommen, deren Gestalt gleich bleibe, obwohl sich ihre Bedeutung ändere. Diesbezüglich ist seine Frage, wie weit man den Bereich der Variante fassen soll. Man könne Invarianzen auch so darstellen, dass sämtliche Varianten farblich hervorgehoben werden, wodurch das nicht Eingefärbte invariant wäre. Rovelli findet diese Idee sehr schön, fürchtet jedoch, dass dadurch der Fokus darauf verloren gehen könnte, woher diese Invarianz stamme. Derzeit werde ein Takt als eine Einheit betrachtet. Eine überzeugende Lösung habe sie bis jetzt noch nicht gefunden. Hier fügt Katrin Eich hinzu, dass dies auch mit der Entscheidung des Editors zu tun habe. Es könne schließlich offengelegt und vom Editor begründet werden, warum von einem bestimmten Segment ausgegangen wird.

Hans Walter Gabler versteht das Problem des Invarianten anhand der gezeigten Materialien etwas anders. Beim Beispiel von Susanne Cox und Federica Rovelli ereignete sich die Analyse der Invarianzen und Varianzen auf einem Notenblatt. Bei der Zwölftonreihe oder bei der mehrfachen Niederschrift des Identischen gebe es eine Bezugsgröße, diese existiere jedoch nicht bei dem hier in Rede stehenden Beispiel. Es könne zwar der Begriff der Invarianz verwendet werden, jedoch müsse man sich darüber im Klaren sein, was damit gezeigt werden soll. Allerdings müsse darauf geachtet werden, ob bei der Vergleichbarkeit nicht auch unterschiedliche Materialgegenstände aufeinander treffen. Auf das Beispiel bezogen stellt sich ihm dazu die Frage, ob die Varianz/Invarianz hör- bzw. spielbar sei. Laut Cox seien Unterschiede durchaus hör- bzw. spielbar. Rovelli vermutet, dass ein Missverständnis aufgetreten ist. In dem Beispiel sollten die kompositorischen Probleme fokussiert werden; all das, was konstant geblieben ist, stelle in dieser Hinsicht kein „Problem“ dar. William Kinderman ist der Meinung, dass bei Beethoven der Begriff Invarianz eine überraschend große Rolle spielen könne. Zu diesem Punkt spricht er ein Beispiel an, bei dem die Invarianz sogar verschiedene Werke miteinander verbinden kann, wenn Beethoven einen Kontratanz dekonstruiere und die Bassstimme zur Grundlage von zwei anderen Werken (Prometheus; Klaviervariationen; Eroica-Finale) mache. Ein anderes Beispiel sei ein Thema, das bei der Komposition des Finales der 9. Sinfonie übrigblieb und dann im Streichquartett a-Moll Verwendung gefunden hat.

Bernhard Appel weist darauf hin, dass die Varianten ein ambivalentes Aussehen besitzen. Sie weisen bestimmte Elemente auf, die sie miteinander verknüpfen – die Invarianz – und andererseits Eigenschaften, die Unterschiede definieren. Die Niederschrift einer Variante schaffe Fakten. So werde Beethoven bei der Niederschrift zum Leser seines Textes. Das Lesen sei beim Komponieren ein wichtiger Bestandteil; Beethoven führe gleichsam Textdialoge. Bei der genetischen Edition gehe es primär um die Darstellung des Prozesses und weniger um die Inhalte. Auch in der herkömmlichen Papieredition könnten Varianten zwar verglichen werden, jedoch sei nicht ersichtlich, wo der skripturale Zusammenhang bei der Herstellung der Variante liegt. Das Inhaltsproblem komme dann ins Spiel, wenn an einer Stelle bereits vorhandene skripturale Elemente an einer anderen Stelle integriert werden und dadurch syntaktisch und semantisch eine ganz andere Position erhalten. Hierzu überlegt Appel, bis zu welchem Punkt noch von Ähnlichkeit gesprochen werden könne, und ab wann das Prinzip der Ähnlichkeit überschritten werde. In der Variantendarstellung sollen die Varianten unter allen Aspekten beleuchtet werden, um den gesamten Komplex zu verstehen.

Almuth Grésillon bringt den Begriff des „Fehlers“ ins Spiel. Auch wenn Schreibfehler und Grammatikfehler fraglos existierten, sollten alle darüber hinausgehenden vermeintlichen Anomalien nicht zu schnell als fehlerhaft angesehen werden, um nicht in den Bereich von Bewertung und Interpretation zu geraten. Boulez habe von „accidents heureux“, von „Unfällen“ im Verschriftlichungsprozess gesprochen, die positive Potenziale freisetzten, indem sie zur Findung kreativer Lösungen herausforderten. Hier sei der Fehlerbegriff nicht länger sinnvoll anwendbar. Diesbezüglich erwidert Appel, dass in keinem der Referate der Begriff „Fehler“ aufgetaucht sei. Die Aussage von Grésillon bezog sich allerdings auf Richard Sänger, der von „Textnarben“ und deren Heilung gesprochen habe. Sänger erläutert, dass im Projekt in der Tat viel über die Begriffe „Textnarbe“ und „heilen“ diskutiert wurde. Da der Begriff „Textnarbe“ negativ konnotiert sei, habe er den Begriff „heilen“ nachgeschoben, um die positive Konnotation hervorzuheben, die auch im Projekt hervorgehoben werden soll. Ulrich Konrad spricht einen Ausspruch Hans-Werner Henzes an, der gesagt haben soll, eine erste Note könne jeder schreiben. Der Prozess des Komponierens beginne aber erst ab der zweiten Note. Es gebe in der Regel eine Unzahl von Optionen und Komponieren bedeute, an jedem Punkt Entscheidungen zu treffen, die ihrerseits jeweils Konsequenzen hätten. Bei verworfenen Varianten sei es klüger, nicht von Fehlern zu sprechen, sondern eher von Optionen, die im Sinne eines bestimmten Ziels gewählt wurden.

In der Projektarbeit sei man immer wieder auf Sprachprobleme gestoßen, so Appel. Es sei wichtig, dass die Dinge mit denen man sich im Projekt auseinandersetze, benannt werden. Da Metaphern naheliegend seien, entstanden Begriffe wie „Textnarbe“. Bevor der Begriff Textnarbe benutzt wurde, sprach man im Projekt von Störstellen. Dies war zwar naiv, jedoch war es zu Beginn ein Mittel zur Verständigung. In der Regel empfinde man Manuskripte als defiziente Texte. Eine Begriffsbildung soll negative Konnotationen vermeiden. Stellen mit intensiven Überarbeitungen seien offenbar Stellen, an denen der Komponist auf Schwierigkeiten gestoßen ist; die Frage sei nun, mit Hilfe welcher Schreibprozesse der Komponist die Probleme gelöst habe; der Begriff „Narbe“ verdeutliche, dass etwas, was in der Komposition zunächst unstimmig gewesen ist, durch die Variantenbildung geheilt worden ist. Das sei die positive Metapher hinter dem Begriff. Außerdem nötige die Arbeit mit MEI zu ganz klaren Begrifflichkeiten, um zweifelsfrei kodieren zu können. Sprachliche Disziplinierung sei ein wesentlicher Anteil der Projektarbeit. Um die Verwendung des Begriffes „Textnarbe“ nochmal zu unterstreichen, weist Kepper auf einen Aspekt hin, der ihn mit dem Begriff versöhnt habe, nämlich die Idee, dass die Rasuren und Streichungen gleichsam das Narbengewebe seien, welches das vorher dort stehende Problem geheilt habe. Zur Invarianz ergänzt Kepper, dass es sich dabei um einen analytischen Zugang handle, der auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein könne und immer eine Interpretation des Editors darstelle, der einen Erklärungsversuch anbietet, aus welchen Ansätzen der Komponist letztlich eine Lösung der Herausforderungen zusammensetzt bzw. komponiert. Diesbezüglich sei die Einfärbung der Invarianz spannend. Hans Walter Gabler weist darauf hin, dass in der Textkritik der Begriff „Fehler“ lange Zeit gängig gewesen sei. Fehler können als Kollateralphänomene des Prozesses insgesamt verstanden werden, wobei die Fehler als Nebensache verstanden werden sollten. Er spricht sich gegen die Verwendung der Metapher mit der Heilung aus, da sie im Grunde genommen aus der alten traditionellen Editionswissenschaft stammt. Zwar kann er die Verwendung des Begriffes Narbe verstehen, jedoch kann er auch nachvollziehen, dass der Begriff im Zusammenhang mit der Metapher des Heilens auf Irritationen stoßen kann. Konrad wirbt nochmals dafür, die Möglichkeiten des Fehler-Begriffs nicht zu unterschätzen, wobei die Offenlegung des Bezugssystems, das heißt die Offenlegung der zugrunde gelegten Theorie des Fehlers, zur Interpretation eines Fehlers als Fehler natürlich wichtig sei. Am Narbenbegriff störe ihn der wertende Charakter.

Christine Siegert bringt den Vorschlag in die Diskussion ein, dass es interessant sein könnte, die Einfärbungen umgekehrt, das heißt prospektiv, vorzunehmen, also in der ersten Variante das einzufärben, was in der letzten Variante auch noch da ist. Rovelli wendet ein, dass durch solch eine Einfärbung die dazwischenliegenden Varianten ihren Bezug verlieren würden, was Siegert dementiert, da nicht nur mit der ersten und letzten, sondern auch mit allen weiteren Varianten auf dieselbe Weise verfahren werden könnte. Dies sei auf jeden Fall machbar und könne ausprobiert werden, so Kepper, man habe allenfalls mit einem Fleißproblem zu rechnen.

Zusätzlich weist Krämer darauf hin, dass die Musikwissenschaftliche Edition der Literaturwissenschaftlichen Edition hinterherhinke insofern, als längst noch nicht von allen wichtigen Kompositionen zuverlässige Ausgaben vorliegen. Die Notwendigkeit, etwa in der Beethoven-Ausgabe (potenziell äußerst schwierige, schlaflose Nächte verursachende) Entscheidungen über richtige und falsche Töne zu treffen, werde durch die Beschäftigung mit den Skizzen unter der genetischen Perspektive ja keineswegs obsolet. Eich äußert abschließend ihr Unbehagen gegenüber dem eingeführten Begriff der Variante, da Beliebigkeit in ihm mitschwinge. Er suggeriere, dass alle Varianten ihre Gültigkeit haben. Dies habe aber einen zeitlichen Aspekt, eine Chronologie, die von der Begrifflichkeit besser widergespiegelt werden müsste. Komponisten dächten nicht nur in Alternativen, sondern auch auf ein Ziel des Prozesses hin. Julia Ronge möchte dem beipflichten: Mit dem Variantenbegriff drücke man sich unter Umständen um die Bewertung. Die Tatsache, dass ein Komponist etwas gestrichen hat, ja möglicherweise, wie im Falle Beethovens häufig zu sehen, durchaus vehement gestrichen hat, zeige doch ein Moment des Bewertens, einen Punkt, an dem ein Text zum defizitären Text geworden sei. Beethovens Entscheidungen sollen untersucht werden, so Konrad; es sei richtig, dass das Projekt Beethovens Werkstatt dezidiert auf den Autor Beethoven bezogen ist.

Die Intention Beethovens zu ergründen, sei allerdings, laut Gabler, nicht mehr die Aufgabe einer Edition, wenn sie genetisch ausgerichtet ist. Es gehe doch gerade darum, auch das Verworfene herauszuarbeiten und sich mit den Varianten auseinanderzusetzen. Jens Dufner kommt zurück auf die Frage der Varianten und sieht insofern kein Problem darin, da ein Prozess dargestellt wird. Es gehe im Projekt um den Schaffensprozess; Ergebnis seien nicht die Darstellung der einzelnen Varianten, sondern ihre Abfolge, und damit der Verlauf des Kompositionsprozesses. Was war Beethoven wichtig in seiner Komposition und was blieb konstant (Invarianz)? Appel betont abschließend, dass die Kategorie Fehler im Projekt überhaupt keine Rolle spiele. Man habe nachgedacht, wie mit dem Begriff Korrektur umgegangen werde. Korrektur meine eine Textbewegung von falsch zu richtig. Um diese beurteilen zu können, bedürfe es Kriterien, die man oft aber nicht habe. Daher spreche man nur von Varianten; Variantenbildung, bzw. ihre chronologische Aufarbeitung im Forschungsprojekt lasse Wertungsmaßnahmen des Komponisten erkennen. Man beobachte, was skriptural passiere, und mit Glück könne man an dieser oder jener Stelle auch den Auslöser eines Problems begreifen. Dann arbeite man bereits hermeneutisch und verlasse die Materialbasis, ein Schritt, der im Projekt durch die Art der Kommentierung auch deutlich markiert werde. Der Begriff der Autorintention sei argumentativ hingegen gänzlich untauglich, eine teleologische Metapher, mit der nicht gearbeitet werden sollte. Retrospektiv, vom fertigen Werk her feststellen zu wollen, was an einer Stelle einer Skizze gemeint sein sollte, sei eine methodische Falle, in die Skizzeneditionen oft getappt seien.