Über-Schreibung
Eine Über-Schreibung ist eine skripturale Maßnahme, bei der ein vorliegender Text oder ein Textteil nochmals zeichengetreu nachgezeichnet wird. Dabei wird der vorhandene, in der Regel mit einem kontrastarmen Schreibmittel notierte und potentiell durch Schwund gefährdete Text mit einem kontrastreichen und haltbaren Schreibmittel graphisch verdoppelt. Dies betrifft zumeist Bleistift- oder Rötel-Notate, die im Laufe der Zeit bis zur Unlesbarkeit verblassen können, weshalb sie mit Tinte nachgezeichnet werden. Derartige skripturale Überlagerungen können verschiedene, nicht immer textgenetisch relevante Ursachen haben:
- Konservatorische Über-Schreibung:
Eine Über-Schreibung kann der Sicherung einer Überlieferung dienen. Robert Schumanns Bleistift-Entwurf zu den sogenannten „Geistervariationen“ (Anh. F 39), der am Vorabend seines Zusammenbruchs entstanden ist, wurde beispielsweise von seiner Ehefrau Clara Schumann mit Tinte nachgezeichnet, um ihn für die Nachwelt lesbar zu erhalten und somit zu sichern. Derartige konservatorisch motivierte, nicht-autorisierte Über-Schreibungen gehören nicht zur Textgenese, müssen jedoch bei textgenetischen Untersuchungen als irrelevant erkannt werden. - Arbeitsökonomisch motivierte Über-Schreibung:
Richard Wagner ließ seine teilweise Hunderte von Seiten umfassenden Bleistift-Skizzen von seiner Ehefrau Cosima Wagner mit Tinte nachziehen (Martin Geck, Richard Wagner, Reinbek 2004, S. 89). Die dadurch verbesserte Lesbarkeit erhöht bei der nachfolgenden Ausarbeitung die kompositorische Arbeitsökonomie. Derartig autorisierte und im Idealfall lediglich textbewahrende Über-Schreibungen gehören zur Textgenese, beeinflussen diese aber nicht inhaltlich. Doch gibt es Fälle, in denen eine Über-Schreibung die Textgenese beeinflusst. Richard Wagner ließ seine ersten, mit Bleistift notierten Skizzen zum Tristan von Mathilde Wesendonk mit Tinte überziehen, was stellenweise aber zu Fehlern führte, die Wagner selbst in den Entwürfen nicht mehr richtig stellte. (Die letzten 13 Blätter des 3. Aktes sind nicht in dieser Weise mit Tinte überzogen. Vgl. hierzu Robert Bailey, The Genesis of Tristan und Isolde and a Study of Wagner’s Sketches and Drafts for the First Act, Diss. Princeton 1969, S. 70). - Affirmative Über-Schreibung:
Beethoven über-schreibt in seinen Arbeitsmanuskripten vorskizzierte Bleistifteintragungen mit Tinte, um deren Textstatus zu verändern: Ein zunächst nur versuchsweise notiertes Textsegment wird so als verbindlich deklariert und vollgültig in den Kontext integriert. Er nennt dieses textgenetisch relevante Verfahren „mit Dinte ausmahlen“ (BGA 235), das in bestimmten Textsituationen auch an Kopisten delegiert werden kann. In diesem Fall ist die Über-Schreibung entweder eine Textaffirmation oder eine Textsicherung (Prophylaxe möglicher Lesefehler), die in den Bereich der expliziten Metatexte gehört. - Quittierende Über-Schreibung:
Davon zu unterscheiden sind autorisierte Über-Schreibungen, die ebenfalls zur Textgenese gehören, jedoch als Quittierungsmaßnahmen zu betrachten sind. Nimmt der Komponist in einem Arbeitsmanuskript Revisionen vor, die anschließend noch in eine bereits existierende (Partitur- oder Stimmen-)Abschrift nachgetragen werden müssen, so über-schreibt der mit den Nachträgen beauftragte Kopist diese (mit Bleistift oder Rötel eingebrachten) konzeptionellen Änderungen seinerseits mit Tinte: Dadurch bestätigt der Kopist, dass er das über-schriebene Textsegment auch in die Abschrift als Korrektur bzw. Revision nachgetragen hat. Diese quittierende Funktion der Über-Schreibung gehört als redaktionelle Maßnahme zur Textgenese. Sie erlaubt dem Komponisten eine effiziente Überprüfung der Korrektur- bzw. Revisionsausführung. Durch Kollation von Arbeitsmanuskript und Kopie(n) lassen sich derartige Quittierungsprozesse nachweisen.
Die Schreibweise „Über-Schreibung“ wurde gewählt, um sie als textgenetischen Terminus vom Begriff „Überschreibung“ (= juristischer Akt der Eigentumsübertragung) zu unterscheiden.
BRA
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