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Expertengespräch zur genetischen Textkritik im Bereich Musik

Textwachstum und Variantenbildung aus der Sicht des Faust-Projekts

von Gerrit Brüning

Im Laufe der Arbeit an der Faust-Edition (2009ff.) ist das Problem der Varianten auf verschiedenen Ebenen diskutiert worden. Die Ergebnisse dieser Diskussion sind nur für die Regelung des internen Sprachgebrauchs schriftlich fixiert worden und nicht zu einem regelrechten Glossar herangereift. Das zwischenzeitliche Ziel, die erarbeiteten Begriffe in einem Entity-Relationship-Modell zu fixieren, führte zu kontroversen Diskussionen. Es erwies sich dabei als schwierig, die philologische und die IT-Perspektive etwa beim Textbegriff zur Deckung zu bringen. 1 Fragerichtung und Differenzierungsgrad der Diskussion sind mit dem Beethoven-Projekt vergleichbar, so dass sich die jeweiligen Begriffe und Unterscheidungen aufeinander abbilden lassen:

Beethovens Werkstatt Faust-Edition 2
Variante / Korrektur Revision / Korrektur
Adhoc-Variante Sofortrevision
Revision Bald- und Spätrevision
Cleartext Textstufe
Skriptur Inskription
Über-Schreibung Fixierung
Um-Schreibung Daraufschreibung
Textualisierung Schreibvorgang

Die Faust-Edition strebt danach, sowohl die innerhandschriftlichen Varianten selbst als auch deren skripturale Indikatoren gleichberechtigt festzuhalten. Dies geschieht in zwei separaten XML-Transkripten. 3 Wesentlicher Anlass und zugleich bleibendes Problem der Trennung beider Ebenen war die Festlegung des von einer Variante betroffenen „Textsegments“. Dessen Umfang lässt sich nicht allein aufgrund skripturaler Indikatoren bestimmen. Schreibökonomisches Verhalten zielt ja gerade darauf ab, diese Indikatoren im Verhältnis zur Variante zu minimieren. 4

Abb. 1: Um-Schreibung „B“ zu „L“.

In Abb. 1 ist zu erkennen, wie der Buchstabe B durch Um-Schreibung unter Nutzung großer Teile des ursprünglichen Buchstaben in ein L umgewandelt wurde. 5 In der Transkription werden aber nur ganze Buchstaben verzeichnet, der mögliche Umfang von Varianten ist dadurch nach unten von vornherein begrenzt.

Abb. 2: Um-Schreibung „B“ zu „L“.

Schon im dokumentarischen Transkript (vgl. Abb. 2) wird also vom handschriftlichen Befund insofern abstrahiert, als auf eine abstrakte, immaterielle Einheit bezuggenommen wird. Im textuellen Transkript stellt sich die Frage, welche Variante sich aus der Um-Schreibung des Buchstabens in einen anderen ergibt. Deren Umfang hängt davon ab, welche sprachliche Einheit von einer Variante betroffen ist. In diesem Fall hatte der Schreiber in der Vorlage ein falsches Wort, nämlich „Band“ gelesen, und der Dichter hat das richtige Wort „Land“ in besonders schreibökonomischer Weise wiederhergestellt (vgl. Abb. 3):

Abb. 3: Korrektur der Verlesung „Band“ zu „Land“.

Für die Verzeichnung der Variante wird also ein größeres Textsegment gewählt, als dies vom skripturalen Indikator vorgegeben ist. 6

Abb. 4: Korrektur von „freut sich“ zu „freuet“.

Der in Abb. 4 dargestellte Fall ist ganz ähnlich gelagert. Aus textueller Perspektive ist dem Wort „freut“ nicht etwa nur ein Buchstabe hinzugefügt, vielmehr ist die Silbenstruktur des Worts geändert, eine einsilbige Wortform ist durch eine zweisilbige ersetzt worden. Der skripturale Indikator gibt also auch nicht unmittelbar Aufschluss darüber, ob eine bloße Hinzufügung oder eine Ersetzung vorliegt.

Abb. 5: Entstehung einer Textvariante durch Umwidmung.

Abb. 5 soll zeigen, wohin die Abstraktion von skripturalen Indikatoren bei der Variantenverzeichnung führen kann. 7 Eine ganze Reihe separater Indikatoren verschmilzt hier zu einer Textvariante. Bemerkenswert ist hier besonders der rechte Rand der Variante. Vom skripturalen Indikator her gesehen gibt es keinen Anlass, das Wort „könnte“ in die Variante einzubeziehen. Stillschweigend findet hier aber ein Wechsel der grammatischen Person von der ersten in die dritte statt, bei homographer Form. Auch hier werden also Teile der Skriptur wiederverwendet. Der Einbezug auch homographer Formen mag diese Art der Variantenverzeichnung auf den ersten Blick luxurierend erscheinen lassen. Denkt man jedoch einen Schritt weiter und fasst eine linguistische Annotation ins Auge, so werden beide Formen benötigt, um die jeweilige grammatische Person angeben zu können.

Die separate Anlage von dokumentarischen und textuellen Transkripten eröffnet in zwei Richtungen große Spielräume: Zum einen kann der handschriftliche Befund sehr viel genauer wiedergegeben werden, zum anderen aber kann sehr viel stärker von ihm abstrahiert werden. Das dokumentarische Transkript gibt die Sedimente, die der Schreibvorgang hinterlassen hat, und damit im Wesentlichen einen Zustand wieder. (Natürlich können die Sedimente erst aufgrund der Einsicht in den Schreibvorgang erkannt werden; einmal entziffert, können diese im dokumentarischen Transkript jedoch in einer Weise festgehalten werden, die von dieser Einsicht weitgehend abstrahiert.) Erst das textuelle Transkript ist insofern genetisch, als es Änderungsakte und aufeinanderfolgende Zustände im Sinne von aufgegebenem, gültigem oder auch wiederhergestelltem Wortlaut verzeichnet. Wie beschrieben stellt sich dabei immer die Frage, welche Einheit von einer Variante betroffen, wie groß ihr Umfang also bemessen ist. Der handschriftliche Befund gibt darüber keinen Aufschluss, von ihm wird ja zugunsten sprachlicher Einheit abstrahiert. In analoger Weise dürfte dieses Problem in der Musikedition auftreten: Was wird durch einen handschriftlichen Eingriff geändert: wirklich nur die Note, oder doch der Akkord, die Phrase, das Motiv, der Takt etc.?

Die Entscheidung darüber muss zunächst auf der Ebene der primären Verzeichnung gefällt werden, ganz unabhängig davon, ob diese in XML geschieht. Erst in zweiter Linie kommt die für den Nutzer sichtbare Darstellung (Benutzeroberfläche) in Betracht. Unter Umständen kann es vorteilhaft oder technisch erforderlich sein, Varianten auf einen bestimmten Mindestumfang zu expandieren.

Eine dritte Perspektive wird in editorischen Projekten oft übersehen: die analytische Auswertung. Die Kodierung der Faust-Edition verzeichnet Varianten auf der Ebene von Wörtern, wenn das Wort als sprachliche Einheit von einer Variante betroffen ist. Anders wird bislang im Fall von orthographischen Änderungen verfahren.

Abb. 6: Um-Schreibung „B“ zu „L“.

In Abb. 6 ist zu erkennen, wie die Schreibung des Worts „sprossen“ mit „ß“ in die reguläre Schreibung mit „ss“ korrigiert worden ist. Die Verzeichnung unterhalb der Ebene des Worts trägt der Tatsache Rechnung, dass die Variante oder Korrektur hier nicht das ganze Wort, sondern nur einen Teil des Worts betrifft. Auf der Benutzeroberfläche wird demzufolge das Wort durch die Variantendarstellung unterbrochen und ist damit als Einheit nicht mehr so leicht wahrzunehmen. Auch für die analytische Auswertung stellt die gewählte Form der Kodierung ein Hindernis dar, denn weder die eine noch die andere Schreibung ist als Wortform direkt festgehalten. Schon zur Erstellung eines Wortformenindex wäre also ein Vorverarbeitungsschritt erforderlich. Dasselbe gilt für die Suche nach Typen von Varianten über den gesamten Datenbestand hinweg. Als durch Korrektur getilgte Schreibung ist „sproßen“ nicht direkt greifbar. 8 Die Festlegung des Textsegments in der primären Verzeichnung entscheidet also darüber, welche Einheiten später als von Varianten betroffen abfragbar und so einer computergestützten Analyse, wie digitale Editionen sie ermöglichen sollen, zugänglich sind.

Digitalen Editionen dürfte disziplinenübergreifend daran gelegen sein, sich dem Problem der Einheit zu stellen. Infolge einerseits des schreibökonomischen Verhaltens bei der Textualisierung und andererseits des editorischen Interesses an eben ihrem Verlauf werden die von Varianten betroffenen Einheiten tendenziell wahrscheinlich recht eng gefasst. Im Interesse einer adäquaten Repräsentation der Textentwicklung und des computergestützten Zugriffs auf sie könnte es in vielen Fällen ratsam sein, bei der Festlegung des Textsegments größere Einheiten ins Auge zu fassen, als dies von der Rekonstruktion des Schreibvorgangs her naheliegt.

Vgl. Gerrit Brüning, Katrin Henzel und Dietmar Pravida, On the dual nature of written texts and its implications for the encoding of genetic manuscripts, in: Digital Humanities 2012. Conference Abstract.

2
Zu den folgend genannten Begriffen vgl. den ‚Werkstattbericht‘ im Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2011, (urn:nbn:de:bvb:20-opus-76823), S. 40f., 45, 46.

3
Vgl. ebd., S. 41ff. sowie Gerrit Brüning, Katrin Henzel und Dietmar Pravida: Multiple encoding in genetic editions: The Case of „Faust“, in: Journal of the Text Encoding Initiative 4, 2013 (jtei.revues.org/697) .

4
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Wiedergabe zwar in einem direkteren Verhältnis zum vorgefundenen Zeichensystem steht als dies für die Musikedition typisch ist, von einem 1:1-Verhältnis zwischen den handschriftlichen Zeichen und ihrer editorischen Wiedergabe jedoch keine Rede sein kann.

5
Zum folgenden vgl. Brüning, Henzel und Pravida On the dual nature of written texts and its implications for the encoding of genetic manuscripts, in: Digital Humanities 2012. Conference Abstract .

6
Für Kombinationen von Um- und Über-Schreibung oder auch erneuter Niederschrift gilt entsprechend, dass der Umfang der Variante wesentlich kleiner sein kann, als die skripturalen Indikatoren zunächst vermuten lassen.

7
Zum folgenden vgl. Gerrit Brüning, Katrin Henzel und Dietmar Pravida: Multiple encoding in genetic editions: The Case of „Faust“, in: Journal of the Text Encoding Initiative  4, 2013 (jtei.revues.org/697) .

8
Unter dem Gesichtspunkt der Datenauswertung wäre es wahrscheinlich günstiger gewesen, Wortformen stets im Ganzen zu erfassen, den bloß orthographischen Charakter von Varianten maschinell zu ermitteln und dort, wo dies nicht möglich ist, zu annotieren.