Expertenworkshop in Mainz

Vom 26. bis 27. November 2015 fand in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz ein Expertengespräch zum Thema Genetische Textkritik im Bereich Musik statt.
Konkretisiert hatten sich die Pläne zu einem solchen interdisziplinären Austausch zu Arbeitsmethoden, Konzepten und digitalen Umsetzungsformen im Bereich der genetischen Textkritik während eines Arbeitstreffens der Projekt-Mitarbeiter im vorausgehenden Sommer – und erfreulicherweise folgten zahlreiche Experten aus Literatur- und Musikwissenschaft der Einladung, die einschlägigen Modelle und Erkenntnisse der beiden Disziplinen vor- bzw. zur Diskussion zu stellen und gleichzeitig die vom Projekt Beethovens Werkstatt eingeschlagenen Wege kritisch in den Blick zu nehmen.

Die Veranstaltung stand zugleich am Beginn der letzten Arbeitsphase im ersten Modul des Projekts, das sich grundlegend mit methodischen Fragen bei der Untersuchung und Darstellung der Genese musikalischer Texte beschäftigt und die Entwicklung eines Modells zur Erfassung, Codierung und Wiedergabe von Varianten in Beethovens Werkstattmanuskripten in den Mittelpunkt stellt. Bei der Klärung dieser Fragen ergeben sich Berührungspunkte sowohl mit musikwissenschaftlichen Editionsvorhaben als auch mit textgenetischen Modellen, die in der Literaturwissenschaft bereits entwickelt wurden oder gegenwärtig umgesetzt werden. Dabei stellen sich verschiedene Fragen: Inwieweit sind die Methoden der Literaturwissenschaft auf den Gegenstand Musik übertragbar? Gibt es in beiden Bereichen textgenetische Phänomene, deren Probleme auf ähnliche Weise gelöst werden könnten? Fragen dieser Art bildeten den Ausgangspunkt für das Expertengespräch. Zudem bekamen die Teilnehmer Einsicht in das derzeit in Entwicklung befindliche Modell zur textgenetischen Edition von Beethovens Werkstatt, das dem Modell der entsprechenden TEI-Arbeitsgruppe gegenübergestellt wurde. Um die Diskussionen inhaltlich zu strukturieren, wurde das Expertengespräch in fünf thematische Blöcke aufgeteilt, die jeweils aus einer Kombination von Moderation, Impulsreferaten (jeweils ca. 10–15 Minuten) und anschließender Diskussion bestanden.

Thema des ersten Blocks am Donnerstag, moderiert durch Gabriele Buschmeier, war der literarische und der musikalische Textbegriff, zu dem Hans Walter Gabler mit Blick auf das Selbstverständnis der Literaturwissenschaft sowie Bernhard R. Appel und Joachim Veit aus Sicht des Projekts Beethovens Werkstatt Stellung nahmen. In der anschließenden Diskussion wurde insbesondere auf den Text-Begriff Bezug genommen, der für Editionen im digitalen Zeitalter aufgrund eines sich verändernden Verständnisses einer aktualisierenden Definition bedürfe. Es wurde die These aufgestellt, Text manifestiere sich nie anders als in seiner Materialität, während ein Werk sich stets nur hermeneutisch erschließen lasse. Festgestellt wurde, dass etliche Unstimmigkeiten und Mehrdeutigkeiten in der jeweils verwendeten Sprache bzw. der genutzten Terminologie begründet sind. Die Aussage, dass Komponisten keine Musik, sondern ebenfalls „Texte“ hinterlassen, bildete die Grundlage für weitere Diskussionen.

Während des zweiten Blocks am Nachmittag stand das Thema Textbewegung und Variantenbildung im Mittelpunkt. Unter der Leitung von Dietmar Pravida stellte zunächst Gerrit Brüning das Konzept der digitalen Faust-Edition vor. Anschließend skizzierten Elisa Novara und Richard Sänger aus Sicht des Beethoven-Projekts Probleme der Variantenbildung und präsentierten ein Schema zur vereinfachten Darstellung von Variantenbildungsprozessen. In der anschließenden Diskussion wurde bereits auf technische Möglichkeiten zur Darstellung von Schreibprozessen eingegangen. Übereinstimmung bestand darin, dass man mit den derzeitigen technischen Mitteln bei der Visualisierung von textgenetischen Prozessen an Grenzen stoße. Um Lösungen zu finden, sei es wichtig, diese Probleme offen zu thematisieren.

Der letzte, von Katrin Eich moderierte Themenblock des Tages beschäftigte sich mit dem Phänomen der Invarianz. Ulrich Krämer beleuchtete dieses Thema aus Sicht der Schönberg-Ausgabe und stellte dabei zur Diskussion, inwieweit in Kompositionen auftauchende Abweichungen von den eigentlich als „invariant“ gedachten Zwölftonreihen als „Fehler“ oder bewusste Entscheidungen des Komponisten zu werten sind. Aus der Perspektive des Projekts stellten Susanne Cox und Federica Rovelli das Phänomen vor und demonstrierten, welche Erkenntnisse durch unterschiedliche Einfärbungsmodi  der Invarianz im genetischen Prozess vermittelt werden können bzw. welche methodischen Probleme sich durch solche eher analytischen Ansätze ergeben. Intensiv wurde über die hier verwendete Begrifflichkeit diskutiert.

Unter Leitung von Kurt Gärtner ging es am Freitag zunächst um Textgenetische Konzepte und Modelle. Joshua Schäuble eröffnete den Vormittag mit einem Beitrag über das textgenetische Modell der TEI. Daran anknüpfend stellten Maja Hartwig und Johannes Kepper das bisher entwickelte Modell zur Variantencodierung sowie die neuste Version des im Projekt erarbeiteten Prototyps vor. Referate und anschließende Diskussion verdeutlichten, dass digitale Editionen als komplexe Darstellungsformen verstanden werden müssen. Dabei sollte man sich in einem Grundlagenforschungsprojekt – als das sich Beethovens Werkstatt versteht – stets vergegenwärtigen, wo die Repräsentation aufgrund der Vielschichtigkeit innerhalb des zu bearbeitenden Materials bzw. eines hohen Codierungsaufwands unvollständig bzw. unvollkommen bleiben muss. Deutlich wurde aber auch, dass sich hier Literatur- und Musikwissenschaft mit sehr ähnlichen Problemen auseinandersetzen, weshalb ein weiterer intensiver Austausch zwischen den Disziplinen sehr fruchtbar sein dürfte.

Im umfangreichen letzten, von Ulrich Konrad moderierten Themenblock referierten zunächst Almuth Grésillon, William Kinderman und Bernhard R. Appel über ihr jeweiliges Selbstverständnis genetischer Textkritik. Schon in den Beiträgen wurden unterschiedliche Positionen bzw. Akzentuierungen deutlich, so dass sich eine sehr intensive und lebhafte Diskussion anschloss, bei der es auch um das Verhältnis bzw. die Abgrenzung der genetischen Textkritik zur „traditionellen“ Editionsphilologie ging. In seinem Schlusswort hob Ulrich Konrad hervor, dass die Ergebnisse des hier geführten Dialogs zwischen den Disziplinen deutlich machten, dass von dieser gemeinsamen Suche nach Lösungen in einem in vielen Punkten verwandten, aber dann doch auch wieder sich fachspezifisch ausdifferenzierenden Bereich beide Seiten profitierten und daher dieser Dialog in regelmäßigen Abständen fortgeführt werden solle.

Die Kurzbeiträge des Expertengesprächs und ein Extrakt der jeweiligen Diskussionen sollen baldmöglichst auf der Website des Projekts Beethovens Werkstatt dokumentiert werden. Die Ergebnisse fließen auch in die Arbeit im letzten Drittel des ersten Projektmoduls ein.