„Beethoven als Bearbeiter eigener Werke“: Inhaltliche Fragestellungen zu Modul 2 (Laufzeit: 3 Jahre)

Im rezeptionsgeschichtlichen Kontext wird Bearbeitungen oft nur eine sekundäre Bedeutung zugemessen. Doch beobachtet man die zugrundeliegenden Schreibprozesse aus der Perspektive der Critique génétique, so gehört das reine „Bearbeiten“ zum alltäglichen Handwerk eines Komponisten. In den überlieferten Unterrichtsmethoden von Mozart sowie in den Harmonie- und Kontrapunktlehre-Traktaten aus dem 18. Jahrhundert gehört die Bearbeitung von bekannten Mustern oder angegebenen Themen zu den hauptsächlich vorgeschlagenen Schreibübungen eines werdenden Musikers. Historisch gesehen basiert auch der Kontrapunkt auf Prinzipien der „Bearbeitung“ eines vorgegebenen cantus firmus. Schließlich ist in umfassendem Sinn jede Ausarbeitung einer Verlaufsskizze oder eines Particell-Entwurfs eine Form des „Bearbeitens“ eigener Vorgaben.

Aus Sicht des Projekts Beethovens Werkstatt gehören Bearbeitungen unabdingbar zum kompositorischen Denken. Denn in der musikalischen Werkstatt Beethovens sind Bearbeitungsmaßnahmen Teil seiner alltäglichen Kompositionsarbeit. Das bezieht sich sowohl auf eine publizistische/produktorientierte Ebene (verbreitungs- und/oder verlagsbedingte Gattungstransfers wie z. B. Klavierauszüge seiner größeren Werke, neue Besetzung eines Werkes für eine besondere Aufführungssituation usw.) als auch generell auf Prozesse: Bearbeitungen sind im weitesten Sinn Varianten auf einer Makroebene.

Im zweiten Modul sollen folgende Werke Beethovens in den Blick genommen werden:

Zu den angestrebten Zielen des Moduls gehören:

1) die Entwicklung eines Werkzeuges zum teils automatisierbaren Vergleich von Notentexten
2) die Ermittlung von Wegen zur Darstellung der Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen verschiedenen Fassungen eines Werks
3) die Implementierung einer Audio-Komponente, um Werktexte und Transkriptionen hörbar zu machen

Zur Zeit experimentieren wir mit drei verschiedenen methodischen Ansätzen, die wir anhand der genannten Werke ausprobieren:

1. Systematisierung von Ähnlichkeitsbeziehungen
2. Bearbeitungsmaßnahmen und Variantenbildung
3. Bearbeitung als Schreibprozess

1. Systematisierung von Ähnlichkeitsbeziehungen

Dem ersten Ansatz liegt die genuin philologische Haupttätigkeit zugrunde: der Fassungsvergleich durch Kollationierung. Die Originalausgabe (O) und ihre Bearbeitung (B) werden auf Basis der gedruckten Texte verglichen mit dem Ziel, die zwischen Fassungs-Paaren bestehenden Verwandtschaftsbeziehungen zu analysieren. Damit wird erkennbar, welche Textsegmente der Bearbeitung substantiell identisch, ähnlich oder eventuell divergent sind. Dabei wird die Substanznotation unter drei Perspektiven betrachtet: (1) Identität (O = B), (2) Ähnlichkeit (O ~ B) und (3) Differenz (O ≠ B).
Die drei genannten Kategorien sind allerdings alle unter dem Oberbegriff „Ähnlichkeit“ zu subsumieren: Beim Vergleichen erkennen wir, dass die zwei Fassungen insgesamt ähnlich sind, weil einige Strukturen übereinstimmen, einige weniger und einige gar nicht mehr. Aus dieser instabilen und nicht konkret bestimmbaren Situation ergibt sich ein methodologisches Problem: Wie kann man das skalierte Phänomen der „Ähnlichkeit“ abgrenzen und systematisieren?
Ein erster Versuch wurde unternommen, in dem die Subkategorie der substantiellen Ähnlichkeit noch weiter untergliedert wurde, um die Art der Variante zu klassifizieren (rhythmische, melodische oder harmonische Variante). Doch der Erkenntnisgewinn dieser Systematisierung bleibt fraglich.

2. Bearbeitungsmaßnahmen und Variantenbildung

Eine andere Betrachtungsweise könnte fruchtbarer sein. Der Schlüsseltext, der hier als Grundlage gelten kann, ist Beethovens Brief vom 13. Juli 1802 an Breitkopf und Härtel (BGA 97), der allerdings nur als Fragment (über Thayer II, S. 183) und nicht im Original überliefert ist:

„… die unnatürliche Wuth, die man hat, sogar Klaviersachen auf Geigeninstrumente überpflanzen zu wollen, Instrumente, die so einander in allem entgegengesetzt sind, möchte wohl aufhören können, ich behaupte fest, nur Mozart könne sich selbst vom Klavier auf andere Instrumente übersetzen, sowie Haydn auch – und ohne mich an beide große Männer anschließen zu wollen, behaupte ich es von meinen Klaviersonaten auch, da nicht allein ganze Stellen gänzlich wegbleiben und umgeändert werden müssen, so muß man – noch hinzuthun, und hier steht der mißliche Stein des Anstoßes, den um zu überwinden man entweder selbst der Meister sein muß, oder wenigstens dieselbe Gewandtheit und Erfindung haben muß – ich habe eine einzige Sonate von mir in ein Quartett für G.[eigen]I.[nstrumente] verwandelt, warum man mich so sehr bat, und ich weiß gewiß, das macht mir nicht so leicht ein andrer nach.“

Der Text ist ein Schlüsseltext: Die vom Komponisten selbst benutzte Terminologie (mit den explizit erwähnten Kategorien von übersetzen und überpflanzen) und die Abwertung der zeitgenössischen Bearbeitungspraxis als schematisch und unkünstlerisch liefert authentische Stichworte, an die das Modul anknüpfen kann. Beethoven nennt explizit drei Grundoperationen der Bearbeitung: hinzufügen, umändern und weglassen. Diese Operationen entsprechen drei der vier der bekannten Kategorien der Variantenbildung, die als Textbewegung zu beobachten sind: Einfügung, Ersetzung und Tilgung. Die fehlende vierte Kategorie ist die der Umstellung, die in kompositorischen Schaffensprozessen ohnehin eine geringere Rolle spielt und die in Beethovens Eigenbearbeitungen vermutlich irrelevant ist. Auf der Basis dieses Brieftextes können die Bearbeitungen auf einer Produkt-Ebene analysiert werden, wodurch erkennbar werden könnte, wann, warum und wie der Komponist diese Bearbeitungsmaßnahmen benutzt hat.

3. Bearbeitung als Schreibprozess

Einen weiteren und erweiternden methodischen Zugriff kann man auch auf der Prozess-Ebene entwickeln. Hier stünde der Schreibprozess, der einer Bearbeitung zugrunde liegt, im Blickpunkt. Nur durch die Untersuchung von Werkstattmaterialien kann man z. B. feststellen, ob Bearbeitungen das Ergebnis eines linearen genetischen Prozesses sind, wobei eine vollständige Vorlage (z. B. ein veröffentlichtes Werk) umgearbeitet, ergänzt und einer anderen Gattung oder Besetzung angepasst wird. Dieser lineare Prozess wird unausgesprochen für jede Bearbeitung angenommen, was vermutlich auch als zutreffender Regelfall gelten dürfte. Theoretisch gesehen gibt es aber ein zweites denkbares Prozessmodell (das zusammen mit dem linearen Modell koexistieren könnte): Der Komponist könnte auch mit abstrakten „Matrices“ gearbeitet haben, wobei vom gleichen „Matrix-Muster“ ausgehend verschiedene „Erscheinungsformen“ des (Werk-)Textes parallel bzw. gleichzeitig ausgearbeitet werden. Trifft die Annahme zu, so müsste man über eine neue Begrifflichkeit nachdenken, weil der „Bearbeitungsbegriff“ zur Beschreibung dieses Verfahrens ungeeignet wäre. Dieses zweite Prozessmodell könnte die Fälle erläutern, bei denen kein klarer, werkbezogener „Ausgangspunkt des Bearbeitungsprozesses“ nachweisbar ist. Zumindest ein Fall wurde schon von Nottebohm diskutiert (Op. 14), andere werden vielleicht noch in der Erschließung von Werkstattdokumenten auftauchen. Diese Sichtweise könnte aber auch nützlich sein, um einige ungewöhnliche Textabweichungen zwischen den unterschiedlichen „Erscheinungsformen“ des Textes zu erklären. Auf dieser Basis könnte man dann eventuell eine „genetische Systematisierung“ anbieten, wobei die Bearbeitungen nach Entstehungsprozessen gruppiert sind.

Elisa Novara, Federica Rovelli