Rekonstruktion von Skizzenbüchern

Insgesamt sind 70 Skizzenbücher Beethovens erhalten geblieben. Sie haben heute jedoch nur selten den Umfang und Aufbau, den sie zur Zeit der Nutzung durch Beethoven hatten. Dies liegt darin begründet, dass die ehemaligen Besitzer die Bücher veränderten: Sie wurden in mehrere Teile aufgeteilt, man hat einzelne Blätter entfernt, die Lagenstruktur wurde verändert oder nicht zusammengehörende Teile wurden zusammengebunden. Einzelne, herausgetrennte Blätter oder Teile von Büchern wurden verkauft oder verschenkt. Durch die Forschungen Gustav Nottebohms, der seit den 1860er Jahren zahlreiche Beethoven-Skizzenbücher untersuchte und Aufsätze dazu publizierte, wurde der Wert der Skizzenbücher als Quellen für Beethovens Arbeitsweise anerkannt. Nottebohm beschrieb den Zustand einiger Skizzenbücher und gab die Stellen an, an denen Blätter entfernt worden waren. Auch hat er Skizzenbücher beschrieben, die heute als verschollen gelten, wie z. B. das Boldrini-Skizzenheft (vgl. Nottebohm 1887, S. 349–355).
Um den Verlauf der Skizzierung und den Kompositionsprozess nachvollziehen zu können, muss man die Skizzenbücher in der Form betrachten, die sie zu Beethovens Lebzeiten hatten. Deshalb steht am Beginn der Beschäftigung mit einem Skizzenbuch die Rekonstruktion seines ursprünglichen Zustands. Die Rekonstruktion der Skizzenbücher wurde durch Johnson, Tyson und Winter bereits 1985 in ihrem Buch „The Beethoven Sketchbooks“ geleistet. Dort werden die Methoden zur Rekonstruktion ausführlich beschrieben. Im Folgenden wird diese Beschreibung zusammengefasst (vgl. Johnson 1985, S. 44–66).

Arten von Skizzenbüchern bei Beethoven

Beethoven nutzte Skizzenbücher erst ab 1798, zuvor schrieb er seine Skizzen auf lose Notenblätter. Die 70 überlieferten Skizzenbücher lassen sich in zwei Arten unterteilen:
I) Für die Arbeit am Schreibtisch nutzte Beethoven ab 1798 großformatige Bücher (ca. 24 x 32 cm); 33 Exemplare sind überliefert.
II) Unterwegs trug er kleinere Taschenskizzenhefte bei sich (ca. 24 x 16 cm), um Ideen und Einfälle direkt mit Bleistift notieren zu können. 37 Taschenskizzenhefte sind erhalten geblieben. Das erste stammt aus dem Jahr 1811, ab 1815 nutzte Beethoven sie regelmäßig.

Die großformatigen Bücher können noch weiter unterteilt werden:
1) Bücher mit regelmäßiger Struktur und professioneller Bindung
Beethoven nutzte diese Bücher nur in den Jahren 1798–1808; neun der 13 Bücher aus dieser Zeit sind auf diese Weise aufgebaut (z. B. Kessler-Skizzenbuch). Sie sind aus einer Folge von Papierlagen bestehend aus zwei bis sechs Doppelblättern zusammengesetzt. Die Anzahl der Blätter beträgt immer 48 oder 96, sie hängt mit den Standard-Verkaufsgrößen von Notenpapier-Paketen zusammen. Es handelt sich um professionell zusammengestellte, rastrierte und gebundene Bücher, die Beethoven so erworben haben muss. Da Struktur und Umfang solcher Bücher vorhersehbar sind, ist meist gut erkennbar, wie viele Blätter fehlen und an welchen Stellen sie entfernt wurden.

2) Bücher mit regelmäßiger Struktur und nicht professioneller Bindung
Diese Bücher wurden wahrscheinlich von Beethoven selbst oder jemandem, der ihn bei der Arbeit unterstützte, hergestellt. Die Lagenstruktur ist regelmäßig, sie bestehen meist aus nur einer Papiersorte, aber die Bindung ist nicht professionell. Es ist möglich, dass Beethoven bereits teilweise beschriebene Blätter mit einbezog.
Es gibt fünf Bücher aus den Jahren 1812–1826, in denen jede Lage aus zwei Doppelblättern eines Bogens besteht (z. B. Engelmann-Skizzenbuch). Dabei ist die Anzahl der Lagen willkürlich. Die Bindung befindet sich nicht direkt am Falz, sondern am inneren Seitenrand zwischen den Notensystemen und dem Falz. Von 1809–1822 nutzte Beethoven zehn Bücher, in denen alle Doppelblätter in einer einzigen Lage vereint wurden (z. B. Dessauer-Skizzenbuch). Die Gesamtzahl der Blätter dieser Bücher ist unterschiedlich.
Da die Lagenstruktur regelmäßig ist, fällt das Fehlen einzelner Blätter oder Doppelblätter bei Büchern dieser Art auf. Das Fehlen einer ganzen Lage ist nicht immer erkennbar.

3) Bücher mit unregelmäßiger Struktur und nicht professioneller Bindung
Diese Bücher wurden ebenfalls von Beethoven selbst erstellt und zwar aus einer Vielzahl loser Blätter, Doppelblätter oder Lagen. Die Papiersorten sind heterogen, wahrscheinlich nutzte Beethoven übrig gebliebenes Restpapier. Oft waren die Blätter, die er nutzte, teilweise schon beschrieben, bevor sie zusammengebunden wurden. Neun Bücher dieses Typs aus den Jahren 1800–1825 sind erhalten (z. B. De Roda-Skizzenbuch). Bei diesen Büchern besteht die Schwierigkeit, dass fehlende Blätter nicht durch eine Störung in der regelmäßigen Lagenstruktur erkannt werden können. Da Struktur und Umfang dieser Bücher nicht vorhersehbar sind, sind auch die Möglichkeiten der Rekonstruktion begrenzt.

Techniken der Rekonstruktion

Der folgende Abschnitt konzentriert sich auf die Methoden zur Rekonstruktion großformatiger Skizzenbücher, weil das im 4. Modul betrachtete „Notirungsbuch K“ zu dieser Gruppe gehört. Aufgrund des anderen Aufbaus von Taschenskizzenheften weichen die Techniken zu ihrer Rekonstruktion ab. Sie werden hier nicht weiter ausgeführt.
Bei großformatigen Büchern hängen die Möglichkeiten der Rekonstruktion davon ab, um welche Art von Buch es sich handelt (s. o.). Das Notirungbuch K gehört zu den Büchern mit regelmäßiger Lagenstruktur (jede Lage besteht in diesem Fall aus zwei Doppelblättern eines Bogens), die Beethoven selbst hergestellt hat, d. h. mit nicht professioneller Bindung.

Die Techniken der Rekonstruktion beziehen sich 1) auf kodikologische Befunde und werten 2) Indizien aus, die erst durch die Skizzierung entstanden sind.

1) Anhaltspunkte für die Rekonstruktion ergeben sich durch die physischen Eigenschaften des Buchs, die schon vor der Nutzung durch Beethoven so bestanden. Dazu gehören Lagenstruktur, Wasserzeichen, Rastrierung und Bindung:
Ein Papier-Bogen wurde in der Regel so gefaltet und zerschnitten, dass zwei Doppelblätter eine einzige Lage bildeten. Dabei befindet sich auf jedem der vier Blätter ein charakteristischer Teil des gesamten Wasserzeichens. Bei Büchern, die aus einer größeren Anzahl von regelmäßigen Lagen bestehen, ist es somit möglich, die Reihenfolge der Wasserzeichen vorherzusagen (vgl. Winter 1975, S. 136). Bei Büchern mit regelmäßiger Lagenstruktur kann man somit Stellen, an denen Blätter herausgetrennt wurden, meist gut erkennen (außer wenn eine ganze Lage entfernt wurde). Manchmal befinden sich noch Reste entfernter Blätter oder Blattstümpfe in den Büchern. Wenn ein Buch aus einer Papiersorte (mit einem bestimmten Wasserzeichen und Rastrierung) zusammengesetzt ist, kann man für ein fehlendes Blatt genau bestimmen, welche Anzahl von Notensystemen, welche Rastrierungsspannweite (Abstand von der obersten Linie des obersten bis zur untersten Linie des untersten Notensystems) und welchen Anteil des Wasserzeichens (welchen Quadranten) dieses Blatt aufweisen muss. Wenn ein einzelnes Skizzenblatt dasselbe Muster von Stichlöchern aufweist wie ein Buch, ist dies ein Indiz für die ursprüngliche Zugehörigkeit dieses Blattes zum Buch.
Einen Beleg dafür, dass zwei ineinander liegende Doppelblätter eines Skizzenbuchs ursprünglich von einem Papier-Bogen stammten, können die Seitenränder liefern: Die Schnittkanten sind oft nicht sauber, d. h. an einer Seite fehlende, ausgerissene Blatt-Teile befinden sich oft noch an der zugehörigen anderen Seite. Man kann die Kanten puzzleartig zusammensetzen.

2) Neben den physischen Eigenschaften der Skizzenbücher gibt es auch Anhaltspunkte für die Rekonstruktion, die erst im Laufe des Skizzierungsprozesses entstanden sind. Dazu zählen Skizzen-Fortsetzungen, Schreibmittel, Tintenabdrücke, Verweise und Seitenfaltungen:
Manchmal erstrecken sich Beethovens Skizzen über mehrere Seiten eines Skizzenbuchs oder inhaltlich ähnliche Skizzen befinden sich auf benachbarten oder nahegelegenen Seiten. Deshalb kann auch der Inhalt der Skizzen auf den umgebenden Seiten Anhaltspunkte liefern, welchen Inhalt die Skizzen auf einem fehlenden Blatt haben könnten. Außerdem können die Schreibmittel als Indizien herangezogen werden: Übereinstimmende Schreibmittel können auf ursprünglich benachbarte oder nahe liegende Seiten hindeuten. Ehemals nebeneinander liegende Blätter können zudem durch Tintenabdrücke miteinander verbunden sein. Diese Abdrücke sind entstanden, als Beethoven das Buch mit noch feuchter Tinte geschlossen hat. Auch Verweiszeichen Beethovens, wie z. B. Vi=de, durchkreuzte Kreise, Ziffernfolgen wie 20000, etc., können Hinweise auf benachbarte Skizzenseiten liefern.
Um seine Skizzenbücher für sich selbst zu ordnen und zu unterteilen, faltete Beethoven häufig die Seiten der Bücher auf charakteristische Art und Weise. Da er dabei mitunter auch mehrere, hintereinander liegende Seiten gemeinsam faltete, können Seitenfaltungen ein Indiz für ursprünglich hintereinander liegende Seiten darstellen.

SC
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