Textoperation

Einen einzelnen Arbeitsschritt, der einen bereits bestehenden Text verändert, also eine Variante bzw. Korrektur nach sich zieht, bezeichnen wir als Textoperation. Ein durch fließende Progression erzeugter Text wird in einer Abfolge von Textoperationen stufenweise weiterentwickelt. Derartige verändernde Eingriffe (Intervention) und Regulierungsmaßnahmen (Redaktion und Revision, Änderungsmaßnahmen) finden im Idealfall in einem Werktext ihren Abschluss. Jede Textoperation manifestiert sich skriptural in einer spezifischen Schreiboperation. Es gibt vier grundlegende Textoperationen.
(Im nachstehenden formelhaften Überblick ist –> als …wird ersetzt durch… zu lesen. Das zitierte Schema findet sich in Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“, Frankfurt/M., Bern u.a. 1999, S. 184. Allerdings haben wir die dort gewählte Reihenfolge Ersetzung, Tilgung, Erweiterung, Umstellung verändert und den ebendort gewählten Begriff Erweiterung durch Einfügung ersetzt.)

Tilgung: A –> Null
Einfügung: Null –> A
Ersetzung: A –> B
Umstellung: AXY –> XAY (oder XYA)

Diese vier Formen textverändernder Eingriffe gelten mutatis mutandis für jedwede kreative Arbeit: Sie finden sich nicht nur im musikalisch-kompositorischen Zusammenhang, sondern auch in der Erarbeitung von poetischen oder wissenschaftlichen Texten, in der Malerei, Bildhauerei, Bühnenarbeit und in der Musik-, Theater- und Filmproduktion etc.
Die vier Textoperationen (siehe 1. Spalte der folgenden Tabelle) werden bereits in antiken Rhetoriklehren (z. B. in Quintilian, Institutio oratoria, ca. 95 n. Chr.) abgehandelt (siehe Termini der 2. Spalte). Aufgrund ihrer Universalität gehören sie heute zu den Standardoperationen digitaler Textverarbeitungsprogramme (siehe 3. Spalte).

Tilgung detractio deletion
Einfügung adjectio insertion
Ersetzung immutatio deletion + insertion
Umstellung transmutatio cut and paste

(Die in der 2. Spalte aufgeführten rhetorischen Bezeichnungen sind zitiert nach Gerhard Neumann: Schreiben und Edieren, in: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, hg. v. Sandro Zanetti, Berlin 2012, S. 197.)

Jede Textoperation folgt einem bestimmten Handlungsschema und kann auf unterschiedliche Weise den Textumfang verändern. Eine Tilgung führt zur quantitativen Reduzierung, eine Einfügung von weiteren Takten führt zur Vergrößerung des Textumfangs einer Komposition (gemessen an der Anzahl von Takten). (Die Bezeichnung Einfügung ist präziser als der von A. Grésillon benutzte Begriff Erweiterung, weil sie zum Ausdruck bringt, dass ein Textsegment in einen bestehenden Text interpoliert wird. Wohingegen eine Erweiterung darüber hinaus auch an eine Fortsetzung eines Textes an seiner Abbruchstelle denken lässt.)

Die beiden hinsichtlich ihrer Konsequenz für das Textwachstum einander entgegengesetzten, einstufigen Eingriffe – Tilgung und Einfügung – sind elementare Handlungsoptionen, aus denen sich die beiden anderen Textoperationen – Ersetzung und Umstellung – kombinatorisch als zweistufige Eingriffe beschreiben lassen.

Einstufige Operationen:
Tilgung: ersatzlose Löschung eines Textsegments (Textreduzierung)
Einfügung: Einschub eines neuen Textsegments (Textvergrößerung)

Zweistufige Operationen:
Ersetzung: Tilgung eines vorhandenen Segments + Einfügung eines neuen Segments (Textkonstanz oder -reduzierung oder -vergrößerung)
Umstellung: Tilgung + Einfügung des getilgten Elements an anderer Stelle (Textkonstanz)

Zweistufige Textoperationen: Eine Ersetzung besteht 1. in der Tilgung eines vorhandenen Textsegments, an dessen Stelle 2. eine Neuformulierung tritt. Vor dem Hintergrund der stets textreduzierenden ersatzlosen Tilgung ist eine darauf unmittelbar folgende Neuformulierung als Einfügung zu betrachten, die zu Umfangsänderungen des Gesamttextes führen kann. Die Neuformulierung kann im quantitativen Vergleich zum getilgten Textsegment größer, kleiner oder gleichgroß sein.
Eine Umstellung besteht 1. aus der Tilgung eines Textsegments, das 2. an anderer Stelle wieder in den Text eingefügt wird. Da diese Interpolation an die Stelle eines Null-Segments tritt, handelt es sich bei diesem zweiten Handlungsschritt in Bezug auf die vorangegangene Tilgung ebenfalls um eine Einfügung.
(Die abstrakt-theoretische Rede von einem „Null-Segment“ reflektiert die Tatsache, dass im Verlauf genetischer Prozesse grundsätzlich alles, was vom Komponisten bereits erarbeitet worden ist, von ihm selbst kreativ infrage gestellt werden kann. Das betrifft nicht nur den in Zeichen manifesten Textbestand, sondern auch dessen Kontinuität: Sie kann an jeder beliebigen Stelle unterbrochen, durch Interpolationen angereichert, durch Tilgungen verkürzt und umgelenkt werden. Geschieht dies durch eine Tilgung, so wird das getilgte Textsegment für null und nichtig erklärt. Bei einer Einfügung wird etwas zuvor noch nicht Vorhandenes (ein textuelles Null-Segment) durch etwas Neues ersetzt. Ein in Entstehung begriffener Text besitzt – pointiert formuliert – eine unbestimmbare Fülle von Null-Segmenten, die aber erst durch eine Tilgung oder Ersetzung wahrnehmbar, also genetisch relevant werden können. Somit reduziert sich die scheinbar unbestimmbare Fülle von Null-Segmenten auf ein bescheidenes, überschaubares Maß.)
Obgleich bei einer Umstellung die Textlänge konstant bleibt, ändert sich der Funktionszusammenhang des Textes, seine „Gestalt“. Freilich kann eine Umstellung auch mit einer Vergrößerung oder Kürzung des umgestellten Textsegments verbunden sein, wodurch der dann erzielte Umfang des Gesamttextes vergrößert oder vermindert wird. Dann aber handelt es sich nicht bloß um eine Umstellung im Sinne eines Ortswechsels, sondern um einen Positionswechsel, der zusätzlich mit einer Einfügung angereichert worden ist.

Während für variantenbildende Maßnahmen vier Textoperationen zur Verfügung stehen, erfolgt eine Korrektur über eine von drei Textoperationen: Tilgung, Ersetzung, Einfügung. Korrekturen erzeugen keine Varianten, sondern berichtigen Textfehler. Eine Korrektur besteht entweder in der ersatzlosen Tilgung eines falschen Zeichens, in der Ersetzung eines Fehlers durch die richtige Lesart oder in der Einfügung eines fehlenden Zeichens (z. B. eine dynamische Angabe). Es handelt sich hierbei immer um eine eigenständige, von der Variantenbildung strikt zu unterscheidende Textbewegung: Eine Korrektur verläuft von „falsch A –> richtig B“, wohingegen jede variantenbildende Tilgung, Einfügung, Ersetzung und Umstellung von „richtig A –> alternativ richtig B“ ausgerichtet ist.

In jeder Textoperation spiegelt sich das kritische bzw. wertende Verhalten eines Autors gegenüber seinem eigenen Text. Ein textverändernder, d. h. eine Variante auslösender Eingriff bedeutet stets, dass eine bereits getroffene und schriftlich oder sonst wie festgelegte konzeptionelle Entscheidung widerrufen wird (Intervention). In der Malerei wird ein derartiger Widerruf einer kreativen Entscheidung als pentimenti (ital. Reue-Maßnahme, Reuezug) bezeichnet, also mit einem quasi moralischen Fehlverhalten („als Sünde wider den kreativen Geist“) konnotiert. In der genetischen Textkritik sollte jede autorisierte Veränderung einer bereits getroffenen Textentscheidung unbewertet bleiben, obgleich sie zweifellos für den handelnden Komponisten immer mit einer Bewertung, im Sinne einer Verbesserung, verbunden ist: Denn prinzipiell ist von einem „unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftsteller“ (bzw. Komponisten) auszugehen (J. W. von Goethe, 1795 in: Literarischer Sansculottismus, in: Goethes Werke. Sophienausgabe, Weimar 1901, Bd. 40, S. 201).
Textgenetisch relevant ist aber die Frage nach dem jeweiligen Auslöser, dem kompositorischen Problem, das einer konzeptionellen Änderung zugrunde liegt bzw. sie veranlasst haben mag.

BRA
Version 1.0.0