Änderungsmaßnahmen: Klassifizierung

Hinsichtlich ihrer Auswirkung auf den zu revidierenden Text lassen sich die durch Monita geforderten Textänderungen (Änderungsimperative) fünf Kategorien zuordnen:
(1) Korrektur: Beseitigung eines Fehlers innerhalb der primären und sekundären Notation.
(2) Variante: konzeptionelle, strukturelle Änderung eines klar begrenzten Textsegments (konstitutive Variante und/oder ossia-Variante), aber auch Änderung der Satzstrukturen oder Satzabfolgen (siehe hierzu: Tilgung, Ersetzung, Einfügung, Umstellung).
(3) Textpräzisierung: Beseitigung von Ambiguitäten, Ungenauigkeiten oder Inkonsequenzen der sekundären Notation (dynamische, agogische, spieltechnische Angaben) oder auch detaillierte Zusätze zur Aufführungspraxis (z. B. Metronom-Angaben, Stricharten, Fingersätze etc.)
(4) Schriftbildliche Verbesserung: Optimierung der Leserlichkeit (bezogen auf Notenorthographie, Notenuntersatz, Balkengruppierung, Systemverteilung von Stimmen, Wendestellen, Stichnoten, Warnungsakzidentien etc.)
(5) Paratextlicher Eingriff: Einfügung oder Änderung eines Werktitels (sprachliche Gestaltung von Werktiteln, Widmungen oder Ergänzung bzw. Änderung von Opuszahlen), editorische Hinweise (z. B. „neue, vom Autor revidierte Ausgabe“), Änderung oder Ergänzung einer Satzbezeichnung, programmatische Erläuterungen (z. B. Untertitel der Pastoral-Symphonie), Festlegung des Werktextformats (Partitur und/oder Stimmen; Aufteilung von Sätzen in mehreren gedruckten Heften), Hinweise auf parallele Werkbearbeitungen etc.

Bei den fünf genannten Änderungskategorien handelt es sich nicht bloß um Korrekturen (1), die durch die Textbewegung falsch -> richtig umgesetzt werden, sondern zugleich auch um konzeptionelle Änderungen (Varianten) (2), deren Textbewegung von richtig A -> richtig B verläuft. Hinzu kommen lesetechnische Optimierungsanweisungen (3 und 4), mit deren Hilfe Textaussagen präzisiert und deren graphische Qualitäten erhöht werden, ohne dass dadurch komponierte Strukturen verändert werden würden. Außerdem gibt es noch Gestaltungsmaßnahmen in Bezug auf die öffentliche Präsentationsform eines Werktextes (5).

Eine Korrektur (1) ist eine restaurative, rückwärtsgewandte Maßnahme, weil sie eine in einer früheren Textquelle schon bestehende richtige Lesart wiederherstellt. Typische Beispiele für diesen Änderungsmodus sind etwa Berichtigungen von abschriftlichen oder gedruckten Fehlern. Die Korrektur installiert keine konstruktive Variante, sondern restauriert lediglich einen früheren, korrekten Textzustand. Und selbst wenn eine falsche Lesart schon „von Anfang an als ‚richtig‘ intendiert“ war und ihre Fehlerhaftigkeit vom Komponisten erst spät entdeckt und berichtigt wird, ist auch dies im weiteren Sinne eine restaurative Maßnahme: Eine als richtig „gedachte“, aber versehentlich falsch notierte Lesart wird in die korrekte Textform überführt.

Im Gegensatz zur Korrektur ist eine Variante (2) eine progressive Textintervention, denn mit ihr soll eine bestehende, zwar richtige, aber nicht als optimal erachtete Lesart durch eine neue ersetzt werden. Pointiert gesprochen ist eine Variante die Folge einer Metanoia, eines konzeptionellen Sinneswandels, der eine bereits gefundene Textlösung durch eine andere, „bessere“ ablöst. Diese qualitative Veränderung ist nicht immer mit Textwachstum verbunden. Auch die ersatzlose Tilgung einer Lesart, die den Werktext quantitativ reduziert, ist im Sinne des revidierenden Autors eine textoptimierende Variante. Einen Sonderfall stellen ossia-Varianten dar. Sie formulieren aufführungspraktische Alternativen (oft im Sinne spieltechnischer Erleichterungen) zu einer im Werktext festgelegten Lesart.
Während Korrekturen (1) und Varianten (2) den komponierten Text strukturell und damit auch dessen Aufführungsmodalität verändern, ziehen Textklärungen (3), schriftbildliche Verbesserungen (4) und paratextliche Eingriffe (5) keine Veränderungen der komponierten Strukturen nach sich. Sie lenken aber auf unterschiedliche Weisen die Rezeption des Werktextes.

Eine Textpräzisierung (3) unterscheidet sich von Korrekturen und Varianten, weil sie die Ausführungsgenauigkeit erhöht, ohne komponierte Strukturen inhaltlich zu verändern. Derartige Textpräzisierungen finden sich überwiegend auf der Ebene der sekundären Notation, um deren genuine Aussageunschärfen zu reduzieren. Bei der Drucklegung der Klaviersonate op. 106 verfügt Beethoven beispielsweise, dass die ursprüngliche Bezeichnung des Kopfsatzes „Allegro assai“ auf „Allegro“ zu verkürzen und durch die Metronomangabe Halbe=138 zu ergänzen ist (Brief vom 16. April? oder Juni? 1819 an Ferdinand Ries, BGA 1309). Dadurch wird der Bezugsrahmen des Ablauftempos messgenau präzisiert, wobei der komponierte Text strukturell unverändert bleibt.
Soll z. B. die bereits bestehende Angabe „cresc.“ laut Revisionsanmerkung in „cres-cen-do“ geändert oder durch eine Gabel ersetzt werden, so erzeugt dies keinen strukturellen Bedeutungsunterschied, erhöht aber die Aussagegenauigkeit der ursprünglichen Angabe: Ein gesperrt gedrucktes cres-cen-do oder eine Gabel präzisieren den Geltungsbereich dieser dynamischen Forderung genauer, als dies ein abgekürztes „cresc.“ vermag.
Die genannten Beispiele, aber auch präzisierende Angaben wie z. B. Fingersätze, Stricharten, Angaben zu Spielsaiten („sul G“) usw. beziehen sich durchweg auf die Aufführungspraxis (Interpunktion von Phrasen, Sonorität etc.) mit dem Ziel, interpretatorische Willkür und aufführungspraktische Gewohnheiten einzudämmen bzw. zu disziplinieren.

Schriftbildliche Verbesserungen (4) betreffen das Layout eines Notentextes. Auch sie führen nicht zu strukturellen Veränderungen oder Bedeutungsunterschieden des komponierten Textes und haben auch keinerlei Auswirkungen auf die Klangrealisierung einer Komposition, sondern optimieren sein graphisches Erscheinungsbild. Derartige Verbesserungen stehen im Dienste der Leseerleichterung. Sie erlauben eine gute und schnelle Orientierung im Text (z. B. durch eingefügte Stichnoten oder durch Warnungsakzidentien), erleichtern dessen spielpraktische Nutzung (z. B. durch kalkuliert platzierte Wendestellen) und erhöhen manchmal einfach nur das ästhetische Erscheinungsbild der Notationsgraphik (z. B. durch graphische Vereinheitlichung von Balkengruppierungen im homophonen Satz oder durch Auflösung von Brillen in konkrete rhythmische Werte). Im philologischen Jargon werden die letztgenannten Angleichungsmaßnahmen als Augenvarianten bezeichnet.

Auch paratextliche Eingriffe (5) verändern nicht die komponierten Strukturen, sondern betten den gesamten Werktext in einen vom Komponisten gewünschten außermusikalischen, sozialen oder rezeptionsästhetischen Kontext ein. Zusätzliche oder geänderte Opuszahlen oder die bewusste Vermeidung von Opuszahlen (die Beethoven bei seinen Variationswerken über fremde Themen nahezu konsequent praktiziert) sind als biographische bzw. als wertzuschreibende Situierung eines Werkes zu verstehen. Widmungen oder selbst die Wahl des Druckpapiers (feines Velin oder einfaches Gebrauchspapier) definieren einen sozialen Kontext, innerhalb dessen der Komponist sein Werk (bzw. ein oder wenige Druckexemplare seines Werks) präsentieren will. Widmungen können persönliche Verbindlichkeiten des Komponisten oder seine ökonomische Abhängigkeit vom Widmungsträger zum Ausdruck bringen oder demonstrieren, von welchen Standespersonen Komponist und Werk gefördert und geschätzt werden: Mit Ausnahme der widmungsfreien Achten sind alle Symphonien Beethovens Adligen dediziert. Widmungen und Umwidmungen, die adäquate Formulierung von Widmungstexten, die angemessene Werktitelformulierung (z. B. bei der sog. Hammerklaviersonate) sowie die passende Druckausstattung (z. B. eine Titelei mit dem preußischen Staatswappen im Falle der Neunten Symphonie) sind für Beethoven bedeutsame Themen, die ihn gelegentlich sehr umtreiben. Auch im Zuge der Drucklegung ergänzte programmatische oder poetische Untertitel (z. B. „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“) lenken die Rezeption eines Werks, ohne dessen komponierte Strukturen zu verändern. Derartige rezeptionslenkende Paratexte definieren das vom Komponisten gewünschte, angestrebte „öffentliche Image“ eines Werkes.

BRA
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