Annotierte Transkription

In einer annotierten Transkription wird die Übertragung des Quellentextes an Ort und Stelle mit bedeutungsklärenden Erläuterungen des Editors (Annotationen) versehen.
Ein handschriftlich verfasstes Notat (z. B. ein Monitum), (a) das sich einer Mixtur verschiedener Zeichensysteme bedient (z. B. Verbaltext, Notenzeichen, Zahlen, Marginalzeichen, Textwegweiser), (b) dessen inhaltlicher Bezug (z. B. die syntaktische Position innerhalb des zugehörigen Werktextes) nicht oder nicht hinreichend exakt mitgeteilt wird, (c) dessen Aussage oft auch noch sprachlich verkürzt, missverständlich oder gar fehlerhaft formuliert worden ist und (d) dessen mikrochronologische Genese von geringer oder gar keiner Bedeutung ist, bedarf unter Umständen zahlreicher editorischer Erläuterungen und gewisser Regulierungsmaßnahmen, um inhaltlich erschlossen zu werden.
In derartigen, oft stenogrammartig formulierten, gelegentlich nur selbstadressierten und deshalb nur transitorisch relevanten „Composittexten“ sind konventionelle Zeichen und metatextliche Aussagen ineinander verwoben und wechselseitig aufeinander bezogen, weshalb eine selektiv orientierte Cleartext-Transkription die Textaussage bzw. Bedeutung des Notats nicht vermitteln kann. In diesen Fällen ist eine annotierte Transkription erforderlich. Sie besteht aus einer diplomatischen, aber konventionellen Regeln (z. B. Untersatzregeln) folgenden Umschrift, in der sowohl die heterogene Mischung von Zeichen als auch deren Topographie möglichst getreu erhalten bleibt, und die auch die zum Leseverständnis nötigen expliziten Metatexte (z. B. Einfügungszeichen, Kanzellierungsstriche) wiedergibt. Zugleich sind alle zum Verständnis notwendigen, klärenden Zusätze des Editors in die Umschrift ad locum eingeschaltet (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Beispiel für ein Monitum aus Beethovens Revisionsverzeichnis zu den Diabelli-Variationen in Faksimile (Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer, HCB Mh 60, S. 17) und annotierter Transkription.

Editorische Annotationen werden diakritisch gekennzeichnet, um sie vom transkribierten Quellentext zu unterscheiden. Im Übrigen gilt auch hier die für die Cleartext-Transkription beschriebene obligatorische Verlinkungen der Umschrift mit dem zugehörigen Quellenfaksimile.
Eine annotierte Texterschließung kann – falls erforderlich – noch zusätzlich einer selektiven Cleartext-Transkription unterzogen werden, in der ein früherer bzw. anderer Textzustand rekonstruiert wird (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Op. 120, Var. 6, T. 3f.: Gegenüberstellung von Faksimile (Beethoven-Haus, Bonn, NE 294, S. 10), annotierter Transkription und Cleartext-Transkription.

Leitlinien zur annotierten Transkription:

Angesichts der heterogenen Quellensituationen können Annotationsprinzipien nur als Leitlinien (Orientierungshilfen) und nicht als verbindliche Richtlinien formuliert werden.
Grundsätzlich gilt:
1. Editorische Ergänzungen sowie graphische und verbale Annotationen sollen Aussageunschärfen und potentielle Missverständnisse des zu transkribierenden Notats beseitigen, d. h. eine präzise, eindeutige, klar verständliche Textaussage herstellen.
2. Die hierzu nötigen editorischen Eingriffe werden ad locum in die topographisch ansonsten möglichst genau wiedergegebene Umschrift integriert und
3. immer als editorische Zusätze diakritisch gekennzeichnet, wodurch Befund und Deutung klar voneinander unterschieden werden.
4. Die obligatorische digitale Verknüpfung mit dem faksimilierten Notat (siehe SVG) stellt einerseits einen eindeutigen Bezug zwischen originalem Zeichenbestand und seiner Transkription her und trennt davon andererseits alle editorisch interpolierten Annotationen durch diakritische Kennzeichnungen.

Annotationen werden hauptsächlich durch folgende drei Fallgruppen ausgelöst.
1. Fallgruppe: Editorische Ergänzungen von Notationselementen (grau markiert)

  • Verkürzte Rahmennotation (fehlende Taktstriche, Schlüssel, tonartbezogene Vorsatzzeichen etc.) wird ergänzt.
  • Fehlende primäre Notationselemente (z. B. Akzidenzien, Hilfslinien, Notenhälse, Fähnchen, Balken, Verlängerungspunkte), die z. B. in Kontextzitaten zu Missverständnissen und Fehldeutungen führen können, werden nach Maßgabe des Ausgangstextes ergänzt. Wo die Transkription mit Ergänzungen überhäuft und damit schwer lesbar werden würde, empfiehlt es sich, die fehlenden Zeichen und andere Defizite in einem gesonderten Kommentar zu benennen.
  • Fehlende sekundäre Notationselemente (z. B. dynamische, agogische und spieltechnische Angaben wie Fingersätze, Angaben zum Bogenstrich etc.), die beispielsweise im Zusammenhang mit einem Kontextzitat als Änderungsimperativ im Sinne einer Tilgungs-Anweisung missdeutet werden können, werden nach Maßgabe des Ausgangstextes ergänzt. Fallweise empfiehlt sich aber auch hier die Auslagerung in einen Kommentar.
  • Aber: Rudimentäre, unvollständige (z. B. hinsichtlich der Stimmenanzahl reduzierte oder oktavtransponierte oder als Particell bearbeitete) Kontextzitate werden zeichengetreu transkribiert und nicht etwa nach Vorgabe des Ausgangstextes vervollständigt bzw. verändert.
  • Im Notat fehlende Ortsangaben (Taktzahlen) werden soweit erforderlich editorisch ergänzt.

2. Fallgruppe: Editorischer Umgang mit Fehlern

  • Fehlerhafte Angaben von Tonhöhen und Tondauern werden editorisch nicht berichtigt, sondern farblich als Fehler markiert. In einem außerhalb der annotierten Transkription beigefügten Kommentar kann der Fehler benannt und richtiggestellt werden.
  • Aber: Vom Schreiber selbst vorgenommene Korrekturen eigener Abschreibfehler werden nicht als solche transkribiert; wiedergegeben wird die schreibend erzielte letzte Lesart. Auf den Korrekturvorgang kann ggf. im beigefügten Kommentar hingewiesen werden.

3. Fallgruppe: Editorische Funktionskennzeichnung einzelner Textelemente

  • Das einen Änderungsimperativ betreffende, eine Einfügung fordernde Notationselement wird in der Transkription grün eingefärbt. Fordert der Änderungsimperativ eine Tilgung, so wird das zu tilgende Element rot markiert.
  • Sind in ein und demselben Notat mehrere Schreiberhände beteiligt, so werden die einzelnen Schreibanteile durch jeweils vorangestellte Annotationen (Namensnennung des Schreibers) einzeln ausgewiesen. Aber: Wechselnde Schreibmittel (Tinte, Bleistift, Rötel usw.) können, müssen aber in der Regel nicht annotiert werden.

SC, BRA
Version 1.0.0